Dienstag, 27. September 2016

zu Glück bei Karl Marx und im Kapitalismus aus 1982

Die menschliche Gesellschaft unterscheidet sich von den Gesellschaften der Tiere dadurch, dass sie durch Bearbeitung der Natur mehr erzeugt, als sie für den augenblicklischen Verbrauch benötigt. Der Kampf um die Nutznießung aus dem Mehrwert ist der Gegenstand der Geschichte, mit der Anhäufung des Mehrwerts erhöht sich die Erbitterung, mit der der Kampf geführt wird, steigert sich außer dem materiellen Nutzen auch der kulturelle, die so genannte Qualität des Lebens. 

Aus dieser grundsätzlichen Feststellung entwickelt die marxistische Theorie ihr im Großen und Ganzen allen anderen Geschichtstheorien überlegenes dramatisches Geschichtsbild, das bis heute von den wirtschaftlichen und politischen Veränderungen bestätigt wurde. Die Theorie ist zwar von einem vorsichtigen Optimismus geprägt, lässt aber durchaus die Möglichkeit offen, dass im vorausgesagten Kampf von Arm und Reich auch der Untergang beider Klassen wie der ganzen Menschheit eintritt. Die Glückspropheten des Kapitalismus werden dagegen stets durch die Realität insoweit widerlegt, als die vorausgesetzte Ungleichheit der materiellen Verhältnisse die Voraussetzung auch ungleicher Verteilung des Glücks ist, welche nur von einer Minderheit der Benachteiligten nicht gefühlt oder für Nichts geachtet wird: Mag es den Benachteiligten noch so gut gehen, so werden sie nie einsehen, warum es Ihnen nicht ebenso gut gehen soll wie den  Bevorzugten. Solange eine Gesellschaft kapitalistisch geordnet ist, wird es Ungleichheit geben und der Kampf zwischen Ärmer und Reicher, Privileg und Underdog nicht zur Ruhe kommen. Der Grund dafür ist im durchgängig egoistischen Charakter der Menschen zu suchen, die sich insofern nicht von den Tieren unterscheiden. Die marxistische Theorie setzt den Egoismus in ihre Gleichung da ein, wo sie davon spricht, das mit dem Lebensmitteln auch die Bedürfnisse steigen, und davon dass der Mensch eben mehr erzeugt als für seine gegenwärtigen Befriedung nötig ist. Die zu allen Zeiten auch auftretenden Eigenschaften von Mitleid und Selbstzufriedenheit einzelner Menschen klammert sie als vernachlässigbaren Faktor aus ihrer Rechnung aus, worin sie eben von der Realität im Großen bestätigt wird. Alle anderen menschenfreundlicher und individualistischer abgefassten Theorien der Wohlfahrt scheitern dagegen gerade an der Unvereinbarkeit ihre Voraussetzungen mit der menschlichen Natur.

Derselbe Egoismus aber, der zu allen Zeiten den Kampf um den Besitz der Produktionsmittel schürte, soll er löschen, wenn - im günstigsten Fall - die ausgenutzte Klasse der Arbeiter die Herrschaft erlangt und die Verteilung des materiellen Überflusses allein bestimmt. Abgesehen von der Tatsache, dass der Ausgang des Klassenkampfes stets ungewiss ist, weil den Menschenmassen auf der einen Seite die Massenmedien und Massenvernichtungsmittel auf der anderen gegenüber stehen, so ist doch kein stichhaltiger Grund abzusehen, dass der Egoismus erlöschen soll, wenn das Ziel der Klassttlosigkeit erst einmal erreicht ist: wo keine Klasse mehr ist, weil jeder nach seinen Bedürfnissen leben kann, sind eben sie doch da. Der Egoismus aber ist deshalb unersättlich, weil, wo er die Not überwunden hat, die Langeweile ihn anfällt, der zu entkommen er mit aller Intensität neue Motive sucht. – 

Da aber von den materiellen Dingen keine Genüsse mehr ausgehen, sucht er sie in den Menschen. So breche nurmehr noch die sexuelle Enthemmung aus und nach einem wilden hysterischen Vergnügen bleibt nur noch ein der Langeweile abhelfen könnendes Objekt: der Lebenswille von Tier und Mensch. Die Spiele werden mit höherem Einsatz gespielt, aus Fußball wird Football, aus Hunderennen werden Hundekämpfe, aus Freude wird Schadenfreude und endlich Grausamkeit. Es wird nicht mehr genügen, Gladiatorenkämpfe und Verbrecherverbrennungen nur zuzuschauen, der verfeinerte Geschmack will selbst quälen, denn im gelangweilten Bonvivant steckt auch ein Heliogabal. 

Solche amerikanischen Entwicklungen zu verhindern ist nur ein Polizeistaat fähig. Wem aber die Macht gegeben wird, lernt den Genuss der in der Beherrschung der Menschen liegt rasch so deutlich kennen, dass er von sich aus nicht gerne auf sie verzichtet. 

Da man schließlich auch seinen Kindern gerne etwas Gutes tut, liegt in jeder nur möglichen Herrschaftsform die Gefahr der dynastischen Verfestigung, deren Endpunkt die Tyrannei ist. So ist für die Menschheit auch nach einer Beseitigung der schlimmsten Not - und abgesehen von der Vervollkommnung der Vernichtungsmittel - nicht der Ausbruch eines glücklichen Zeitalters zu erwarten, sondern nur das dann ungestörte Dahinsausen auf der Todesbahn zwischen den Abgründen von Glückserwartung und Todesfurcht, unterbrochen nur von weit gezogenen Strecken der Langeweile.

Unkenntnis des menschlichen Charakters überhaupt ist das Erbe, das die marxistische Theorie von Hegel übernommen hat, Die Lobhudler des Kapitalismus bleiben bei der Reklame. Müssen sie zur Erklärung der Realität die Herrschaft des Egoismus anerkennen, indem er den Bürger als homo homini lupus, den Marxisten verschleiert als der Mehrwert erzeugende und sich darum reißende Wille erscheint, so darf er, um die der Schönheit entgegengesetzten Projektionen nicht zu gefährden, nicht unveränderlich sein, sondern muss Ausdruck einer unglücklichen Verkettung äußerer Umstände sein, deren Veränderung durch eine mystische Verwandlung der Absichten eines freien Willens möglich ist.

Die bürgerlichen Enthusiasten träumen davon, dass dem Egoismus der Reichen eine Selbstgenügsamkeit der Benachteiligten korrespondiert, welchen ihr Glück nur deutlich gemacht zu werden braucht, um sie ruhig zu halten; die marxistischen glauben an das Erlöschen des Egoismus nach erfolgreichem Klassenkampf. Beide Vorstellungen operieren plötzlich mit den Beispielen des so selten vorkommenden und bis zu diesem Punkt der Theorien mit Recht vernachlässigten Mitleids und Genügsamkeit, wo Mitleid im Fall des reich geborenen Samariters durch die Schwere des Reichtums und damit größere Selbstüberwindung einen ebenso großen Eindruck macht wie die häufigere Hilfsbereitschaft unter Kampfgenossen in Not, die weniger aber ebenso alles zu verlieren haben. Die Selbstgenügsamkeit der Armen tritt aber vor allem da auf, wo noch das Wenige zu verlieren ist, ist also auch Anzeichen der Angst, nicht ohne weiteres der Zufriedenheit. Und alle Hilfsbereitschaft in der Not pflegt nicht nur zu erlahmen, wo die des anderen beseitigt ist, sondern auch wo Stillhalten oder Niedertreten die eigene erleichtern kann. (So erlebt Im Kampf Der Arbeitslosen gegen die Arbeitslosen ab den 80er Jahren).

So besehen hofft der bürgerliche Prophet auf die Verblödung der Massen, der marxistische auf die der Individuen. Es geht darum, an den Menschen unter Vorspiegelung von Vorteilen den Egoismus auszureden. Der Kapitalist wirft einen Fußball in die Menge, sie vom Betrachten seiner Villa abzulenken, der Marxismus verspricht jedem eine Villa und hoffe, die niedrigen Instinkte totzufüttern. Im ersten Fall gewinnt durch die verminderte Aufmerksamkeit der Menge der Egoismus der Privilegierten an Leichtigkeit der Ausdehnung und erzeugt weitere Not, die den Egoismus der Menge aufpeitscht; im letzteren schärft der Wegfall der materiellen Unterschiede das Interesse für das jeweils im Besitz des anderen Menschen befindliche. Das Interesse des Egoismus geht eben nicht auf irgendeinen ihm zugestanden Besitz, sondern auf Besitz überhaupt, auf die Möglichkeit, sich alles ihm sichtbare anzueignen. Und diese Möglichkeit auch einen anderen zugänglich bloß zu wissen, erzeugt den Neid, der bereit ist, allen eigenen Besitz hinzuwerfen, nur um den des anderen diesem zu entreißen. So hält den Egoismus nichts in Zaum außer die Furcht vor dem des anderen. Gerade sie ist es aber auch, die den Egoismus zu immer größerer Anstrengung treibt, den Anderen, wo er ihn nicht treffen kann zu überlisten. Das ist auch der Grund, warum die Herrschenden aller Zeiten trotz der vielfältigen Möglichkeiten, ihre Zeit in Saus und Schmaus zu verbringen, so unglücklich durch das Leben hetzen. Wo der Eine steht, entdeckt der Andere seinen Lieblingsplatz.

Text aus 82, gekürzt lediglich um zwei, drei kryptische Passagen

Ergänzung 2016:

Die Überlegenheit des marxistischen Ansatzes muss ich wohl zurücknehmen. Er geht ja von nichts anderem aus als der kapitalistische. Beide unterschätzen die Möglichkeit der Vernunft, die wenn auch nicht zur Abschaffung so doch zur Minderung von Leid und zur Stärkung von Freiheit immer wieder sich fähig gezeigt hat. Die Republik der griechichen, römischen, englischen, französischen und amerikanischen Revolutionen allein hat nach dem Zusammenbruch der Glaubwürdigkeit der Ideologien die Chance zur bürgerlichen, unter den Einzelnen verhandelten, Planung von Glück. Die 68er kehrten als Grüne zu ihr zurück. Auch sie haben sich aber inzwischen auf andere, spezielle Felder als bevorzugte Themen konzentriert.
27,9,2016

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