Die menschliche Gesellschaft unterscheidet sich von den
Gesellschaften der Tiere dadurch, dass sie durch Bearbeitung der Natur mehr
erzeugt, als sie für den augenblicklischen Verbrauch benötigt. Der Kampf um die
Nutznießung aus dem Mehrwert ist der Gegenstand der Geschichte, mit der
Anhäufung des Mehrwerts erhöht sich die Erbitterung, mit der der Kampf geführt
wird, steigert sich außer dem materiellen Nutzen auch der kulturelle, die so
genannte Qualität des Lebens.
Aus dieser grundsätzlichen Feststellung entwickelt die
marxistische Theorie ihr im Großen und Ganzen allen anderen Geschichtstheorien
überlegenes dramatisches Geschichtsbild, das bis heute von den wirtschaftlichen
und politischen Veränderungen bestätigt wurde. Die Theorie ist zwar von einem
vorsichtigen Optimismus geprägt, lässt aber durchaus die Möglichkeit offen,
dass im vorausgesagten Kampf von Arm und Reich auch der Untergang beider
Klassen wie der ganzen Menschheit eintritt. Die Glückspropheten des
Kapitalismus werden dagegen stets durch die Realität insoweit widerlegt, als
die vorausgesetzte Ungleichheit der materiellen Verhältnisse die Voraussetzung
auch ungleicher Verteilung des Glücks ist, welche nur von einer Minderheit der
Benachteiligten nicht gefühlt oder für Nichts geachtet wird: Mag es den
Benachteiligten noch so gut gehen, so werden sie nie einsehen, warum es Ihnen
nicht ebenso gut gehen soll wie den
Bevorzugten. Solange eine Gesellschaft kapitalistisch geordnet ist, wird
es Ungleichheit geben und der Kampf zwischen Ärmer und Reicher, Privileg und
Underdog nicht zur Ruhe kommen. Der Grund dafür ist im durchgängig egoistischen
Charakter der Menschen zu suchen, die sich insofern nicht von den Tieren
unterscheiden. Die marxistische Theorie setzt den Egoismus in ihre Gleichung da
ein, wo sie davon spricht, das mit dem Lebensmitteln auch die Bedürfnisse
steigen, und davon dass der Mensch eben mehr erzeugt als für seine
gegenwärtigen Befriedung nötig ist. Die zu allen Zeiten auch auftretenden
Eigenschaften von Mitleid und Selbstzufriedenheit einzelner Menschen klammert
sie als vernachlässigbaren Faktor aus ihrer Rechnung aus, worin sie eben von
der Realität im Großen bestätigt wird. Alle anderen menschenfreundlicher und
individualistischer abgefassten Theorien der Wohlfahrt scheitern dagegen gerade
an der Unvereinbarkeit ihre Voraussetzungen mit der menschlichen Natur.
Derselbe Egoismus aber, der zu allen Zeiten den Kampf um den
Besitz der Produktionsmittel schürte, soll er löschen, wenn - im günstigsten
Fall - die ausgenutzte Klasse der Arbeiter die Herrschaft erlangt und die
Verteilung des materiellen Überflusses allein bestimmt. Abgesehen von der
Tatsache, dass der Ausgang des Klassenkampfes stets ungewiss ist, weil den
Menschenmassen auf der einen Seite die Massenmedien und Massenvernichtungsmittel
auf der anderen gegenüber stehen, so ist doch kein stichhaltiger Grund
abzusehen, dass der Egoismus erlöschen soll, wenn das Ziel der Klassttlosigkeit
erst einmal erreicht ist: wo keine Klasse mehr ist, weil jeder nach seinen Bedürfnissen
leben kann, sind eben sie doch da. Der Egoismus aber ist deshalb unersättlich,
weil, wo er die Not überwunden hat, die Langeweile ihn anfällt, der zu
entkommen er mit aller Intensität neue Motive sucht. –
Da aber von den materiellen Dingen keine Genüsse mehr
ausgehen, sucht er sie in den Menschen. So breche nurmehr noch die sexuelle
Enthemmung aus und nach einem wilden hysterischen Vergnügen bleibt nur noch ein
der Langeweile abhelfen könnendes Objekt: der Lebenswille von Tier und Mensch.
Die Spiele werden mit höherem Einsatz gespielt, aus Fußball wird Football, aus
Hunderennen werden Hundekämpfe, aus Freude wird Schadenfreude und endlich
Grausamkeit. Es wird nicht mehr genügen, Gladiatorenkämpfe und
Verbrecherverbrennungen nur zuzuschauen, der verfeinerte Geschmack will selbst
quälen, denn im gelangweilten Bonvivant steckt auch ein Heliogabal.
Solche amerikanischen Entwicklungen zu verhindern ist nur
ein Polizeistaat fähig. Wem aber die Macht gegeben wird, lernt den Genuss der
in der Beherrschung der Menschen liegt rasch so deutlich kennen, dass er von
sich aus nicht gerne auf sie verzichtet.
Da man schließlich auch seinen Kindern gerne etwas Gutes
tut, liegt in jeder nur möglichen Herrschaftsform die Gefahr der dynastischen
Verfestigung, deren Endpunkt die Tyrannei ist. So ist für die Menschheit auch
nach einer Beseitigung der schlimmsten Not - und abgesehen von der
Vervollkommnung der Vernichtungsmittel - nicht der Ausbruch eines glücklichen
Zeitalters zu erwarten, sondern nur das dann ungestörte Dahinsausen auf der
Todesbahn zwischen den Abgründen von Glückserwartung und Todesfurcht,
unterbrochen nur von weit gezogenen Strecken der Langeweile.
Unkenntnis des menschlichen Charakters überhaupt ist das
Erbe, das die marxistische Theorie von Hegel übernommen hat, Die Lobhudler des
Kapitalismus bleiben bei der Reklame. Müssen sie zur Erklärung der Realität die
Herrschaft des Egoismus anerkennen, indem er den Bürger als homo homini lupus,
den Marxisten verschleiert als der Mehrwert erzeugende und sich darum reißende
Wille erscheint, so darf er, um die der Schönheit entgegengesetzten
Projektionen nicht zu gefährden, nicht unveränderlich sein, sondern muss
Ausdruck einer unglücklichen Verkettung äußerer Umstände sein, deren
Veränderung durch eine mystische Verwandlung der Absichten eines freien Willens
möglich ist.
Die bürgerlichen Enthusiasten träumen davon, dass dem
Egoismus der Reichen eine Selbstgenügsamkeit der Benachteiligten
korrespondiert, welchen ihr Glück nur deutlich gemacht zu werden braucht, um
sie ruhig zu halten; die marxistischen glauben an das Erlöschen des Egoismus
nach erfolgreichem Klassenkampf. Beide Vorstellungen operieren plötzlich mit
den Beispielen des so selten vorkommenden und bis zu diesem Punkt der Theorien
mit Recht vernachlässigten Mitleids und Genügsamkeit, wo Mitleid im Fall des
reich geborenen Samariters durch die Schwere des Reichtums und damit größere
Selbstüberwindung einen ebenso großen Eindruck macht wie die häufigere
Hilfsbereitschaft unter Kampfgenossen in Not, die weniger aber ebenso alles zu
verlieren haben. Die Selbstgenügsamkeit der Armen tritt aber vor allem da auf,
wo noch das Wenige zu verlieren ist, ist also auch Anzeichen der Angst, nicht
ohne weiteres der Zufriedenheit. Und alle Hilfsbereitschaft in der Not pflegt
nicht nur zu erlahmen, wo die des anderen beseitigt ist, sondern auch wo
Stillhalten oder Niedertreten die eigene erleichtern kann. (So erlebt Im Kampf
Der Arbeitslosen gegen die Arbeitslosen ab den 80er Jahren).
So besehen hofft der bürgerliche Prophet auf die Verblödung
der Massen, der marxistische auf die der Individuen. Es geht darum, an den
Menschen unter Vorspiegelung von Vorteilen den Egoismus auszureden. Der Kapitalist
wirft einen Fußball in die Menge, sie vom Betrachten seiner Villa abzulenken,
der Marxismus verspricht jedem eine Villa und hoffe, die niedrigen Instinkte
totzufüttern. Im ersten Fall gewinnt durch die verminderte Aufmerksamkeit der
Menge der Egoismus der Privilegierten an Leichtigkeit der Ausdehnung und
erzeugt weitere Not, die den Egoismus der Menge aufpeitscht; im letzteren
schärft der Wegfall der materiellen Unterschiede das Interesse für das jeweils
im Besitz des anderen Menschen befindliche. Das Interesse des Egoismus geht
eben nicht auf irgendeinen ihm zugestanden Besitz, sondern auf Besitz
überhaupt, auf die Möglichkeit, sich alles ihm sichtbare anzueignen. Und diese
Möglichkeit auch einen anderen zugänglich bloß zu wissen, erzeugt den Neid, der
bereit ist, allen eigenen Besitz hinzuwerfen, nur um den des anderen diesem zu
entreißen. So hält den Egoismus nichts in Zaum außer die Furcht vor dem des
anderen. Gerade sie ist es aber auch, die den Egoismus zu immer größerer
Anstrengung treibt, den Anderen, wo er ihn nicht treffen kann zu überlisten.
Das ist auch der Grund, warum die Herrschenden aller Zeiten trotz der
vielfältigen Möglichkeiten, ihre Zeit in Saus und Schmaus zu verbringen, so
unglücklich durch das Leben hetzen. Wo der Eine steht, entdeckt der Andere
seinen Lieblingsplatz.
Text aus 82, gekürzt lediglich um zwei, drei kryptische
Passagen
Ergänzung 2016:
Die Überlegenheit des marxistischen Ansatzes muss ich wohl
zurücknehmen. Er geht ja von nichts anderem aus als der kapitalistische. Beide
unterschätzen die Möglichkeit der Vernunft, die wenn auch nicht zur Abschaffung
so doch zur Minderung von Leid und zur Stärkung von Freiheit immer wieder sich
fähig gezeigt hat. Die Republik der griechichen, römischen, englischen,
französischen und amerikanischen Revolutionen allein hat nach dem Zusammenbruch
der Glaubwürdigkeit der Ideologien die Chance zur bürgerlichen, unter den
Einzelnen verhandelten, Planung von Glück. Die 68er kehrten als Grüne zu ihr
zurück. Auch sie haben sich aber inzwischen auf andere, spezielle Felder als
bevorzugte Themen konzentriert.
27,9,2016