Samstag, 4. April 2020

2009 Zwei Amseln

Zwei Amseln

Wie schön der Morgenstern! Die Alpträume lösen sich auf in feine Fäden, die Hoffnungen senken sich in tausendfingrige Büsche. 

Es ist da, 
ich werde es verlieren, 
ich öffne meine Aufmerksamkeit. Da ist das Labyrinth, in dem Du das Ich spürst und aus dem Du Gott rufst von Unbekannt zu Unbekannt. 

Mit zerbrechlichen, brechenden Werkzeugen geht Wittgenstein an die philosophischen Gebirge. Was ist dem Fragezeichen nicht fragil? Aus den gebrochenen Erinnerungen ragt eine Nichtwissen reflektierende Ruine Ich.
Gott sagt: "Nachtblauer Halbschatten!" Die Amsel schwingt sich auf die Baumspitze. Sie ruft ihren Mann oder Frau herbei. Die grünen Blätter in den Gärten sind plötzlich plastisch und saftig von Realität. Es duftet nach frischer Welt.

Foucault schlägt im Manuskript seiner Seele nach und kann das Kapitel Ich nicht finden, wiewohl er jedes Wort einzeln buchstabiert. Der bukowinische Rabbi lacht und wirft die Buchstaben hoch in die Luft. Gott fällt als Sonnenfunken in den von Tannennadeln bedeckten Staub Deines Herzens. Die Amsel deutet auf mich und sagt: "Schau  mal, ein Ich." 

Armut vom Feinsten und Einsamkeit vom hohen Niveau treffen einander beim Billigbäcker. Cogito, ergo sum. Was ist das Ich außer Subjekt der Erkenntnis im Tsunami? Rene Descartes könnte auch ein Automat Gottes oder des Menschen sein. Woher weiß ich: "Das ist Ich-noch-einmal"?

Die Amsel blickt über die Rentnergärten, wo sich die Alten freies Schußfeld geschaffen haben. Ein letztes Sichern der menschlichen Ordnung, bevor der Dschungel die Herrschaft erobert und der Ohnmacht, dem Tod und der Einsamkeit seine Schatten öffnet. Wer spielt dann mit Dir das Katzenspiel?

Mein Ich steigt aus dem Manuskript seines Lebens. Es spürt die Erstmaligkeit dieses Morgens und hört den Glockenklang von Märchen. Bin nicht auch ich heute zum ersten Mal? Das Blau senkt sich in die Grasstoppeln, in die Federn und in die Seele. Ich atme neuen Tag in blühende Erinnerungen.

Die Einsamkeit setzt sich an den Tisch und die Not ruft die Nacht, in die die Romantiker ihre Lügenmärchen träumen. Ja, wenn das Du "Ich" sagt, was soll dann das Ich sagen? Ein Wettbewerb zuckelt vorbei. Es gilt, die Ernte guter Beziehung einzufahren. Die Literaten von Gemütlichkeit und Drang zeigen ihre Waggerl- Weihnachtsgedichte. Man dekoriert heute aber auch mit Gebrochenheiten Stärke. Vorne strebt der Ruhm, hinten wedelt die Sklavenseele. 

Der sterbende König hält den Spiegel in der Hand, um sein Leben bei der Auflösung zu beobachten. Sie wird schneller sein als das Licht, das zurück eilt, ihm seinen Tod zu melden. Seine Augen verwandeln sich in Hologramme, in deren Tiefe Verwirrung flackert. Wenn Gott ein erkennendes Wesen ist und auch der Wurm zumindest weiß, was vorn und hinten ist: was sehen sie, wenn sie in sich hinab schauen? 

Ich frage den Obdachlosen nach dem Weg zu den Menschen. Er lächelt und zeigt auf seine Wundmale. Das Sein bestimmt das Bewußtsein. Zu den Menschen mußt Du nicht kommen. Sie holen und sie bedrücken Dich. Als Kind Gottes bleibt Dir nichts als Leben und Tod, Gruß und Abschiedsgruß. Ich bin von Erkenntnis besoffen. 
Die Amsel ruft einen Liebesjubel. Zu ihrer Frau sagt sie: "Siehst Du das Ich da unten? Randvoll mit Erinnerungen. Es geht schon zur Hälfte unter der Erde." Tatsächlich höre ich über mir schon die Schritte der neuen Zeit. Sie spuckt neben mir aus und schickt Zäpfchenbomber in die Welt Gottes.
  
Aufbohren der Aufmerksamkeit? Alle Windows-Entfesselung führt nicht näher ins Herz des Anwenders, der soeben die Taste "del“ drückt, um Deine Vernunft zu formatieren. Turbo-downloade Deine Depression, Wellness all-inclusive.

Aber die neue Zeit mischt sich auch neu: Die Liebe strafft das Ego der deutschen Ureinwohner mit den Massagen Asiens, und die Provinz zerfällt wieder in Familien. Ein Kinderwagen für 1.000 Euro fährt den neuen Dalai Lama ins Ich des Menschen, während Gospel, Glatz und Kopftuch sich zusammentun, um den Minirock zu steinigen. Wir philosophieren. Zur Begleitung wähle ich mir den Irrtum und Gott, das Fragezeichen.

*

Reden wir vom Du nach dem das Ich sich sehnt, wenn ihm nichts geblieben ist als Raum und Zeit. Der Wille zur Macht lacht darüber und stolpert über einen liebeskranken Amok, der eine Heilige umarmt. 

Am Sterbebett sagt Narziß:  "Meine  Mutter hat mich nicht geliebt." Sie sehnte sich nach Liebe und zog ihre Jungen zu Helden und Bestien heran. Ein BMW von der Betriebswirtschaft rauscht durch den Vicar of Wakefield. Homo oeconomicus reicht bei Hartz IV lnsolvenz ein. Welchen Abschreibungssatz nehme ich auf die Ewigkeit? 

*

Wer weiß schon Wahrheit? Der Allwissende oder der Dämon des Sokrates? Woher weiß Gott, daß Du ein Ich bist wie er? Ist die Grenze der Sprache die Grenze der Welt? Und was sagt da wohl der Koma-Patient zu all unseren Gewißheiten? Man könnte den Papst fragen oder den Parteivorstand, Weisheit und Prada. Ich ziehe vor, mein Nichtwissen nachdenkend zu erwerben.     

 05.10.09 Klaus Wachowski

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